Samstag, 4. März | 16:15

„Transformation oder Neubau? Ein Architektur-Wettbewerb in Brüssel als Musterbeispiel einer Zeitenwende”


„Stop building now!” So lautet die Botschaft, die uns die Architekt:innen unter den Vertretern der „Last Generation” entgegenrufen. Tatsächlich trägt Bauen in gewaltigem Ausmaß zur Erderwärmung bei, sei es durch den CO₂-Ausstoß bei der Herstellung von Baumaterialien, durch den Energieaufwand für Heizung und Kühlung oder indirekt durch Verkehrsströme, die das Ergebnis kurzsichtiger Raumplanung sind. Zugleich ist Bauen eine Notwendigkeit, um das Grundrecht einer wachsenden Weltbevölkerung auf menschenwürdige Wohn- und Arbeitsstätten und ansprechend gestaltete öffentliche Räume zu befriedigen. In fortgeschrittenen Industriegesellschaften stellt sich freilich die berechtigte Frage, ob Neubau überhaupt vertretbar ist oder ob bei stagnierenden Bevölkerungszahlen nicht mit der Umnutzung des Bestands das Auslangen gefunden werden könnte.
Die Beantwortung dieser Frage verlangt nach einer kritischen Bewertung des Bestands unter Einbeziehung von Faktoren, die noch vor wenigen Jahren für die meisten Akteure keine Rolle spielten: Wie viel graue Energie steckt im Bestand? Wie viel kontaminierten Bauschutt erzeugt ein Abbruch? Auf der anderen Seite stehen funktionelle und technische, aber auch ästhetische Mängel, die einen Neubau wünschenswert machen. Sich dauerhaft an eine defizitäre Bausubstanz zu binden, kann für eine Institution fatal sein.
Ein exemplarisches Beispiel für den Umgang mit dieser Problematik ist der Architekturwettbewerb für die Erneuerung des Gebäudes für das Europäische Parlament in Brüssel. Der Bestand ist nach knapp 30 Jahren funktionell und technisch am Ende. Die Frage Sanierung oder Abriss blieb den Teilnehmern überlassen, die sehr unterschiedliche Antworten lieferten. Der erste Preis ging an einen Kompromissentwurf von Julien de Smedt, aber selbst dessen Realisierung scheint an der Angst der EU-Parlamentarier zu scheitern, der Verschwendung bezichtigt zu werden. In der Turn-On-Talk-Runde diskutieren die Architekten des zweiten Preises im Wettbewerb, András Pálffy und Wilfried Kuehn, sowie Claudia Cavallar, Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Architektur, über Ethik und Ästhetik der Dekarbonisierung.
C.K.

Claudia Cavallar studierte Architektur bei Hans Hollein und Greg Lynn und ist seit 2010 als selbstständige Architektin tätig. In ihrer Arbeit setzt sie sich mit dem Unauffälligen, Zufälligen und Gewohnten in der Architektur auseinander. Sie ist seit 2019 Vorstandsmitglied der ÖGfA (Österreichische Gesellschaft für Architektur).

Wilfried Kuehn, geb. in Hamburg. Studium der Architektur am Politecnico di Milano. 2001 Gründung Kuehn Malvezzi gemeinsam mit Johannes Kuehn und Simona Malvezzi. Seit 2018 Professur für Raumgestaltung und Entwerfen an der TU Wien, Leitung des FWF-Forschungsprojekts Curatorial Design an der TU Graz.

András Pálffy, geb. 1954 in Budapest. Studium an der TU Wien. 2001–2002 Gastprofessur an der Kunstuniversität Linz, 2003–2020 Professur an der Abteilung Gestaltungslehre und Entwerfen der TU Wien, 2012–2019 Institutsvorstand, 2007–2013 Präsident der Wiener Secession, 2022–2023 Professur an der Accademia di architettura in Mendrisio, Schweiz. 1988 Gründung von Jabornegg & Pálffy.