Freitag, 14. März | 10.20Wer macht Stadt? Wer macht Architektur?
Ich nehme Sie als Erstes mit nach Berlin an den Alexanderplatz und zwar drei Jahre nach dem Mauerfall. Die Politik und Verwaltung beschließen eine Tabula-rasa-Strategie, und die Architekt*innen Kollhoff/Timmermann gewinnen den städtebaulichen Wettbewerb am Alexanderplatz mit zehn neuen Hochhäusern und dem fast flächendeckenden Abriss des DDR-Städtebaus.
Die nächsten 25 Jahre bleibt die Wirtschaftskraft Berlins schwach, das Preisniveau niedrig und der Büroüberhang groß. Es passiert erst einmal nichts – außer der Festsetzung eines Bebauungsplans, der den Bestand wegrasiert.
Rund 15 Jahre nach dem Wettbewerb soll der Masterplan überarbeitet werden: weg von Tabula rasa, hin zu mehr Bestandserhalt. Inzwischen hat sich nämlich öffentlicher Widerstand in der Fachwelt und in Teilen der Zivilgesellschaft gegen den Abriss der DDR-Moderne formiert. Verwaltung und Politik nutzen die Gunst der Stunde, denn Berlin hat das Recht, die Bebauungspläne ohne Entschädigungszahlungen anzupassen, da über Jahre niemand eine Entwicklung anging. Die Grundeigentümer*innen müssen das akzeptieren. Hans Kollhoff stellt sich dem Dialog mit der Bevölkerung im Workshopverfahren.
Am Ende des dialogischen Entwurfsprozesses entfallen drei der ursprünglich zehn Hochhäuser und stattdessen bleibt ein Großteil des Bestands erhalten, darunter auch das Pressehaus aus dem Jahre 1973.
Ein neuer Besitzer will das inzwischen denkmalgeschützte Pressehaus umbauen. gmp Architekten erhalten den Auftrag und stellen das Sanierungsprojekt im Berliner Baukollegium, einem sechsköpfiges Expert*innengremium, vor. Das Gremium begrüßt das Umbaukonzept, das die historische Erscheinung weitgehend nachempfindet. Damit unterstützt es die Bauherrschaft und die Architekt*innen gegenüber den Nachbar*innen, die zum Teil eine andere Agenda haben.
Mit vereinten Kräften können sich in einem langen Prozess der Erhalt und die gute Gestaltung des Pressehauses durchsetzen.
In einer Publikation des Architekturbüros gmp steht zu diesem Projekt – ich zitiere:
»… gemeinsam mit Tishman Speyer entwickelten wir eine Strategie, das Gebäude zu sanieren und ihm die ursprüngliche Fassade zurückzugeben.«
Wenn man dies liest, könnte man glauben, das Presshaus wurde alleine wegen der Architekt*innen und der Bauherrschaft erhalten und sorgfältig saniert. Die sind nicht unbedeutend, verstehen Sie mich nicht falsch, aber in der gerade erzählten Geschichte tauchen unzählige weitere Akteur*innen auf.
Ich frage Sie nun, wer macht Stadt? Wer macht Architektur? Architekt*innen, Bürger*innen, Politiker*innen, die Verwaltung, Investor*innen? Medien? Wer sonst?
Ich würde sagen: WIR ALLE
Das Stadtmachen und – je länger je mehr – auch das Architekturmachen sind geprägt von „geteilter Autor*innenschaft“. Sind es in der Architektur große Teams aus vielen Fachrichtungen, so ist die Autor*innenschaft im Städtebau und der Stadtplanung oftmals noch eine Stufe komplexer. Die Akteur*innenkonstellationen sind schwerer fassbar, in den Prozessphasen wechselnd, das Mittun manchmal informell oder wenig legitimiert.
Und natürlich gibt es umgekehrt welche, die nicht auf dem Spielfeld stehen oder auf der Ersatzbank sitzen. Die Frage kehrt sich da nämlich um: Wer fehlt beim Stadt- und Architekturmachen?
• In der Schweiz sind mehr als 55 Prozent der Architekturstudierenden Frauen, aber im Beruf sinkt der Anteil auf 35 Prozent. Bei den Büroinhaber*innen sogar auf 15 Prozent. Nur vier der 100 größten Büros in Deutschland sind in weiblicher Hand. Dies Zahlen stammen aus dem Jahr 2022.
• In Bürger*innenbeteiligungsverfahren sind in der Regel 60 bis 70 Prozent der Teilnehmenden über 65 und männlich und die Mehrheit ist gut gebildeter Mittelstand. Die Zahl der Immigrant*innen tendiert gegen null.
Aber alle sollten gefragt sein, wenn es um die Qualität von Stadt und Landschaft geht.
Alle, auch jene, die nicht in Entscheidungsprozesse involviert sind, gestalten Stadt – nämlich zumindest indem sie die Stadt nutzen.
Generell sind es dennoch viele, sehr viele, die in der Stadtentwicklung und Architektur mitreden. Das macht die Sache gelinde gesagt herausfordernd.
Fragen Sie sich auch manchmal: Wer steuert eigentlich dieses Chaos, wer kann das?
Die ETH Zürich bietet seit Kurzem den Advanced Master für »Raumentwicklung und Prozessdesign« an.
Kleiner Transparenzhinweis: Ich berichte vermutlich nicht ganz objektiv, da ich den Studiengang »Prozessdesign« mit Joris Van Wezelmael und dem Programmleiter Andreas Rupf sowie Lidia Kettmeier mitgestalten darf und dort lehre.
Architekt*innen, Ingenieur*innen, Soziolog*innen, Jurist*innen, Bauherrenvertreter*innen, Verwaltungsleute, Investor*innen, Büroinhaber*innen etc., also transdisziplinäre Teams, bilden ein fiktives Planungsbüro, das den Auftrag hat, einen Prozess für eine konkrete Planungsaufgabe zu entwerfen. Die Studienleitung bringt wiederholt Störungen in den Prozess ein, sodass die Teams ständig ihr Prozessdesign anpassen müssen. Wie im wahren Leben eben.
Damit sich das auch besonders real anfühlt, wird in Rollenspielen mit Drehbüchern das Storytelling kontinuierlich weiterentwickelt und es werden die Widerstände, Machtspiele aber auch die Kooperation sowie das gegenseitige Lernen gefördert. Die Studierenden lernen:
• gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen zu antizipieren
• politische Prozesse zu verstehen
• gruppendynamische Prozesse durch Rollenspiele zu üben
• Beteiligungsprozesse zu gestalten
• Stadtentwicklungs- und Bauprozesse zu steuern
… ohne dabei Architektur und Städtebau zu vernachlässigen.
Denn ja, die Kernkompetenz des Entwerfens muss beherrscht werden und gelernt sein, auch wenn – wie wir gesehen haben –, die Autor*innenschaft geteilter wird, je länger es dauert.
Der Mythos des einsamen Genies, oft gekoppelt mit einem patriarchalischen Führungsstil, ist längst passé. Das Entwerfen dient der Gesellschaft – immer schon –, und da hilft der Dialog, um andere Lebensperspektiven einbeziehen zu können.
Dies hat zum Glück gerade eine jüngere Generation erkannt, die viel mehr im Miteinander sozialisiert ist und im Dialog starke Architekturen entwickelt und schärft. Dafür sind soziale Kompetenzen ebenso entscheidend wie fachliche und entwerferische.
Wir brauchen:
1. Entwerfer*innen, die aus dem Dialog heraus starke Konzepte und Architekturen entwickeln können
2. Wir brauchen mehr Diversität in den Büros, Teams und Prozessen
3. Wir brauchen Prozessgestalter*Innen, welche die Fähigkeit haben, einen Prozess von Anfang bis zu Ende zu denken, zu gestalten und zu steuern.
4. Und wir brauchen eine adäquate Ausbildung für Prozessgestalter*innen an den Hochschulen
Und warum brauchen wir das alles? Weil Bau- und noch entscheidender Stadtentwicklungsprozesse sehr lange dauern.
Lassen Sie uns an einen neuen Schauplatz, nämlich ans Seeufer von Zürich gehen und zurück ins Jahr 1980, wo sich Jugendliche und die Polizei heftige Straßenkämpfe lieferten, die sogenannten Opernhauskrawalle. Anlass war ein 60-Millionen-Franken-Kredit für eine Erweiterung des Züricher Opernhauses. Gegen diese ausschließliche Investition in die Elitekultur und das Establishment wird heftig protestiert.
Fast ein halbes Jahrhundert später muss bis ca. 2030 das Opernhaus erneut saniert und erweitert werden. Anstatt gleich ein Raumprogramm aufzustellen und einen Wettbewerb zu starten, werden der historische, gesellschaftliche und politische Kontext sowie die Akteur*innenkonstellation sorgfältig analysiert, um eine Strategie zu entwickeln, wie ein solches vorbelastetes Vorhaben überhaupt durch eine Volksabstimmung und danach zu einem architektonischen Erfolg gebracht werden kann.
Zur Strategie des Gesamtprozesses für das Opernhaus gehört unter anderem eine ausgefeilte Kommunikations- und Beteiligungsstrategie.
Lange im Voraus, als die geplante Sanierung noch nicht öffentlich bekannt war, wurde eine digitale Diskussionsreihe zusammen mit den führenden Opernhäusern in Deutschland und Österreich zur Zukunft der Opernhäuser lanciert, um das Feld vorzubereiten. Der darauffolgende Beteiligungsprozess nennt sich Dialog. Die festgezurrten Rahmenbedingungen und auch wer über was entscheidet werden offengelegt, und es werden nur Themen zur Diskussion gestellt, in denen es noch Spielraum gibt.
Die Ergebnisse sind zum Teil überraschend und super hilfreich: Die alternative Kulturszene z. B. wünscht sich gar keinen weiteren Spielort in diesem Haus, was das Programm deutlich entlastet und Spielräume für anderes öffnet. Denn: Alle wünschen sich einen sogenannten »Dritten Ort«, der sich für Aneignungen aller Art, als Treffpunkt ohne Konsumzwang, aber auch Ort des Austauschs eignen soll.
Ein wichtiges »Learning« aus den Voruntersuchungen und Beteiligungen ist, dass das ursprüngliche Raumprogramm umgeschrieben werden muss. Opernaffine Nutzungen werden reduziert, das Haus offener konzipiert und dies zugunsten eines Mehrwerts für die Allgemeinheit.
Außerdem soll der Dialogprozess hier nicht enden, sondern während des Architekturwettbewerbs, des Abstimmungskampfs, der Planung, des Bauprozesses und auch danach im Betrieb weitergeführt werden. Denn sonst scheitert die Beteiligung.
Interessant an diesem Beispiel sind zwei Dinge:
1. Alles fängt bei der Frage an: Wie bekomme ich einen hohen dreistelligen Millionenbetrag für ein elitäres Kulturprojekt durch eine Volksabstimmung. Ganz entscheidend ist die Phase 0 vor dem Entwerfen, Planen und Bauen. Dort werden die strategischen Ziele, Inhalte, Chancen und Risiken definiert. Die Vorgeschichte, der Zeitgeist, der gesellschaftliche und politische Kontexte und so weiter spielen dabei eine wichtige Rolle.
2. Keine Angst vor Bürger*innenbeteiligung! Wer das Instrument der Beteiligung passgenau zur Aufgabe und zu den Rahmenbedingungen konzipiert, wird gewinnen. Und zum Thema Diversität: Aufsuchende Formate machen Beteiligung jünger, bunter, diverser.
Die Ausgangsfrage war: Wer macht Stadt? Wer macht Architektur?
1. Wir alle! Daher sind Akzeptanz und gegenseitige Wertschätzung dessen, was anderer Akteure beitragen können, entscheidend. Die Welt ist kompliziert, die Herausforderungen in unserem Metier groß. Es braucht das Wissen und Können vieler.
2. Entwerferische Kompetenz und die »Konkurrenz der Ideen« sind nach wie vor Schlüssel für gute Stadt- und Architekturqualität. Aber die Prozesse müssen vielfältiger und dialogfähiger ausgestaltet werden.
Warum setzte ich mich als ausgebildete Architektin, die sich genauso an einem besonders liebevoll gestalteten Detail als auch an einer innovativ programmierten Nachnutzung freuen kann, so sehr für Prozesskultur und Prozessqualität ein, aber auch für bessere Arbeitsbedingungen in unserem Beruf und für mehr Diversität?
Weil:
Menschen unterschiedlich entwerfen, da sie unterschiedlich leben und daher unterschiedliche Lebenserfahrungen in den Entwurf einbringen. Das ist gut, wenn wir wollen, dass Stadt und Architektur für alle Menschen gemacht wird. Das braucht allerdings immer noch an vielen Stellen ein Umdenken, einen Wandel im Berufsbild und in der Führungskultur.
Wir brauchen:
• weniger Einzelkämpfer*innen
• weniger Geniekult
• weniger Fake-Beteiligung
Sondern wir brauchen:
• mehr Dialog und Diversität
• mehr Transdisziplinarität und gegenseitige Wertschätzung
• mehr Prozesskompetenz und reflektierte Beteiligungskultur
Gottfried Böhm, der große Kirchenbauer sagte einmal:
Zitat: »Baukultur ist – wenn dir das Herz aufgeht.«
Wir brauchen Überraschung und Gestaltkraft und die kommen, wenn der Reichtum des Lebens die Städte und die Architektur vielschichtig macht.
Daher werde ich nicht müde zu sagen: Baukultur ist Prozesskultur!
Und die brauchen wir, um den Paradigmenwechsel im Städtebau und der Architektur hinzubekommen und um »Die Chance in der Krise« zu packen. Wechseln Sie ruhig mal die Rolle. Übernehmen Sie Verantwortung – wo immer möglich. Seien oder bleiben Sie politisch.
Wir brauchen Empathie und das Miteinander – mit Blick auf die Welt – mehr denn je. Wir alle machen Stadt, wir alle machen Architektur.
R.L.
¹(Statistik Bundesarchitektenkammer 2020)
²(Quelle Planradar 2022)
³(Statistik Bundesarchitektenkammer 2020)
⁴(Auswertung Beteiligungsverfahren Alte Mitte Neue Liebe
Regula Lüscher, geb. 1961 in Basel, Schweiz. Studium der Architektur an der ETH Zürich und Executive MBA der Universität St. Gallen/ETH Zürich/MIT Chicago. „Die Stadtmacherin" ist ehemalige Senatsbaudirektorin und Staatssekretärin für Stadtentwicklung in Berlin. Sie erhielt den ULI Leadership Award 2012 und wurde 2021 von der Akademie der Künste zu einem ihrer Mitglieder ernannt.