TURN ON PARTNER im ORF RadioKulturhaus Wien. Freitag, 7. März 2014. 10.00 bis 18.30 Uhr.
TURN ON im ORF RadioKulturhaus Wien. Samstag, 8. März 2014. 13.00 bis 22.00 Uhr.


Boris Podrecca - Thema Umbau


Ich möchte das Thema meines Vortrags auf die Problematik des Umbaus fokussieren, d.h. Bauen um -, Bauen in -, Bauen mit dem Bestand. Die neue Dimension des Ökologischen und Ökonomischen, mit der wir heute auskommen müssen, macht alle Formen der Wiedernutzung zum vordergründigen Thema des Bauens. Allein die unterschiedliche Begriffsskala verdeutlicht ihre Komplexität: Renovierung, Restaurierung, Revitalisierung, Rekonstruktion, Regenerierung, Reanimation, Reformierung, Reparatur, Reproduktion, Konsolidierung, Modernisierung, Aufschichtung, Transformation, Vitalisierung usw. Der Bestandsumbau als Reaktion auf das brennende Phänomen der Knappheit, sowohl von Boden als auch von Ressourcen, steht uns bevor und wird immer mehr in das politische und soziale Feld umgeleitet, ja nahezu gedrängt. Auch der theoretische Diskurs darüber muss seine eigene Praxis auf Defizite hin befragen. Seine Grundlagen müssen in der Verschränkung des Rational-Kognitiven und des Atmosphärisch-Sinnlichen mit den neuen Bedingungen der gesellschaftlichen Praxis stärker in Betracht gezogen werden.

Objektspezifischer Umbau
Nachdem der klassische Streit – Neubau oder Umbau – seit der Nachkriegszeit kontroversiell, ja heroisch diskutiert wurde, heutzutage bereits applaniert und unserer pluralistischen Haltung gewichen ist, wo jeder Fall ohnehin ein spezifischer ist, verliert der Umbau sein lineares Kompensations-Aroma. Die Überfluss- und Wegwerfgesellschaft hat bis dato die Erblast unter dem Konsumdiktat entproblematisiert. Selbst ein Denkmalbezug des Umbaus flaniert auf Umwegen über die Profitentwertung oder -aufwertung . Ein drohendes Überstrapazieren der Gedächtniskapazität der Menschen wird da am liebsten gleich mit entsorgt. Entsprechend profitiert die Motorik der Wirtschaft von dieser neuen Unübersichtlichkeit, wie sie Habermas definiert hat.
Niemandem würde einfallen, sowohl die Ad-litteram-Rekonstruktionskopie des eingestürzten Campanile auf dem Markusplatz in Venedig als auch die ratzeputze Liquidierung der Kriegsspolien am Alexanderplatz in Berlin, die durch radikale Neubauten ersetzt wurden, in Frage zu stellen, solange sie Profit abwerfen.
Aber auch die neuen Architekten-Generationen sind irgendwie bezugsmüde gegenüber den ehemaligen Heroes des Umbaus wie Scarpa, Döllgast, Böhm, Schwarz, Albini oder Pingusson geworden. Die stille Anklage wirft ihnen eine allzu karamellisierte Haltung, ja eine ästhetisierende Flickerei (Carnap) vor. Der Umbau, als Kontextualität oder als Utopie, wird oft beiseitegelegt, Geschichte und Theorie werden einfach marginalisiert. Ersetzt werden sie meistens durch das pragmatische Spielwerk der Eigengesetzlichkeit.
Demzufolge geht es in vielen Fällen allgemeiner Umbaupraxis um eine Entkoppelung der dialogischen Zeitsequenz, um die Ausschaltung der Zeit, welche mit beschleunigtem Tempo die Gegenwart dramatisch verkürzt. Der turbokapitalistische Druck auf die Ware Architektur liefert eine diabolische Motivation gegen die Erinnerung und fördert das Vergessen. Wenn Geschichte unterströmig läuft, wie z.B. beim Umbau des Sofiensäle-Komplexes in Wien, dann bloß als Unterstützung des Merkantilen. Der Bruch mit dem Netzwerk der Beziehungen und dem daraus folgenden Traditionsverdikt wird somit zur Doktrin.

Zeitversetzt drängt sich hier eine Analogie zu den CIAM-Protagonisten auf, wo der Geschichte Stillstand verordnet wurde: Le Corbusier hatte das gewachsene Paris bereits zum Abbruch zugunsten seiner 18 uniformen Mega-Hochhäuser abkommandiert, während Gropius an der Harvard alle Bücher über Architekturgeschichte aus der Bibliothek verschwinden ließ. Im Unterschied zu unserer utopielosen Zeit träumten die damaligen Akteure von einer weißen Stadt, wo sich jeder Bezug zur Historie als Stolperstein erweisen musste. Das Thema Umbau, sowohl in Bezug auf das singuläre Objekt als auch auf den öffentlichen Raum, wurde ad acta gelegt.
Ganz anders in der darauffolgenden Nachkriegszeit: Das deutlichste Beispiel hierfür ist Warschau und sein Wiederaufbautrauma. Die damals der Moderne angehörigen polnischen Urbanisten und Architekten wollten aus dem zerbombten Warschau eine radikal neue, eine nach Bauhaus-Regeln komponierte Stadt erblühen lassen. Doch das stalinistische Russland wollte kein Geld für das westlich anmutende Artefakt zur Verfügung stellen und bot zwei Alternativen an: Entweder wird Warschau eine Bühne der sozial-realistischen Positur oder eine philologische Rekonstruktion des Zustandes vor dem 2. Weltkrieg. Wobei Moskau wusste, dass diese Alternative bei der dortigen Intelligentia verpönt war. Die Polen, in die Enge gedrängt, optierten zum Trotz für die Konvergenz zur eigenen Geschichte hin. Und das mit rabiater Konsequenz, mit allen rekonstruierten, parasitären Abnormitäten. Wahrscheinlich trug die Verkettung der jeweiligen Spontaneitäten zu einem Bild bei, das ohnehin so ist, wie es immer war und – so absurd es klingen mag – perzeptiv funktioniert. Somit entstand ein pittoreskes Warschau, wie es Prinz Charles gefallen hätte – eine Kopie aus einer vielschichtigen, aber okkasionellen Zweckmäßigkeit.
Ich wage trotzdem zu behaupten, dass es sensiblere, komplexere Fälle gibt, wo eine philologische Rekonstruktion möglich ist. Man könnte auch die Frage stellen, ob beim Umbauen die Hereinnahme der Gegenwart in den kritischen Dialog immer unbedingt ersichtlich sein muss, wobei hier die Schwelle und Dosierung dem Feingefühl des Architekten überlassen werden muss. Max Fabiani hat analoge Attitüden exemplarisch vorexerziert. In dieser Hinsicht gilt die Rekonstruktion des abgebrannten Quartiers El Chiado in der Altstadt Lissabons von Alvaro Siza als beispielhaft.

Trotz alledem hat sich das Parlante mit dem Erbgut mittlerweile erholt und begradigt, hie und da kippt es in die Posthistorie oder wippt hin und her zwischen dieser und der clean message selbstbezogener Modernität. Bei alledem gilt die Frank’sche These, dass unsere Zeit die ganze historische Zeit sei und je nach Fall ihre Berechtigung in der Gegenwart habe. Innerhalb dieser Spannweite, ich wiederhole es nochmals, ist es immer eine Frage der Menge und des Widerstands der Pro-und-Kontra-Anlehnungen an die Historie. Dieses Dilemma äußert sich am besten am Beispiel des unsensiblen Rückbaus des Berliner Stadtschlosses, der sich mit der sterilen Pomade einer retrograden Moderne ziert. Einer Moderne, die dem Esperanto gleicht, wobei hier der Karl Kraus’sche Ruf "es lebe das Unrecht für alle" seine Berechtigung fände.

Reparatur
Andererseits stünde dem Umbau heute, im Übergang vom Maschinenzeitalter zum digitalen Zeitalter, eine viel präzisere und auch komplexere Methode seiner Verschränkung mit der alten Bausubstanz durch das algorithmische Verfahren des Computers zur Verfügung.
Im generativen Design lässt sich eine Reformulierung der Komplexität des Eingriffs in das Erbgut leichter bewerkstelligen. Es handelt sich also um Möglichkeitspotenziale in neuen, sich ständig in Umwälzung befindlichen archikulturellen Grenzen. Und die Bandbreite des Umbaus erscheint in diesem Zusammenhang vielschichtiger als jene des Neubaus. Das Mehr ist die physische Beziehung zum vorherigen Bauwerk, in formaler wie in materialästhetischer Hinsicht. Gerade durch die präzisierte Erblast wird nicht zuletzt die Gefahr ihres Kippens in eine oberflächliche Avantgarde-Attitüde vermieden.
In unserer rezessionellen Zeit nimmt der Umbau immer mehr die Charakteristika einer Reparatur an. War bis zum 19. Jahrhundert die Tradition des Um- und Weiternutzens, des Umbauens und der Überschichtung ungebrochen, zerfiel diese Usance in der Folge, ausgehend vom Historismus und seiner spezifischen, theoretischen Kategorisierung der Stilepochen. Heutzutage geht man in dieser Hinsicht lockerer damit um, da die moderne Reparatur primär Effizienzsteigerung, Schonung, alternative Lebensform, Weiternutzung – d.h. Zurückforderung und nicht Stilregulation – bedeutet. Man könnte es auch den kleinen Umbau nennen: effizient, billig, sparsam. Reparatur gleicht einem Moralapostel inmitten der Wegwerfgesellschaft und ist heute die am häufigsten vorkommende Form der Bestandsumnutzung. Sie, die Reparatur, mindert sowohl Risiken als auch Verantwortung, öffnet aber dem Architekten beinahe uneingeschränkte Ausdruckspotenziale, auch im Hinblick auf die zunehmend einengenden Budgets. Doch hier ist Vorsicht am Platz. Man denke nur, was Standardisierung und brand in der Wiener Innenstadt dieser Lockerheit folgend angerichtet haben und wie vor allem die Dachsilhouette gelitten hat: Am Graben kann man die "Stadt über der Stadt" der protegierten Upper Class trefflich bewundern.

Globale Paradigmen
Erlauben Sie mir nun, über den Umweg der Reparatur in ihrer objektspezifischen Rolle auf den städtischen Maßstab überzuleiten.
Immer wieder erreichen uns apokalyptische Meldungen über die wachsende Zahl der Weltbevölkerung, aktuell rund 7 Milliarden – die Hälfte davon in Städten, davon über 60 sogenannte Megacities, in denen sich binnen 20 Jahren die Bevölkerung verdoppeln soll. Entsprechend würden zwei Drittel der für die nähere Zukunft prognostizierten Weltbevölkerung in Ballungsräumen leben.
Das wirft viele Fragen auf: Was passiert, wenn der Staat kein Gewaltmonopol mehr hat oder wenn Millionen Menschen um beschränkte Ressourcen kämpfen – und wie sieht der Alltag von 35 Millionen Bewohnern einer Stadt wie z.B. Tokio oder Mexiko City aus?
Wenn man aus unserer lokalen, kammermusikalischen Umbauproblematik heraushüpft, in deren Dunstkreis man mehr oder weniger griffige Rezepte einer Haltung im Umgang mit Bestand entwickeln kann, wird die Frage im erweiterten territorialen Bezug obsolet. Warum überhaupt intervenieren, wenn Kulturgut existenzbedingt zerstört wird, wenn etwa Lagos ohnehin funktioniert – trotz Devastation und Regellosigkeit?, fragt Rem Koolhaas.

Wenn wir uns von innen auf unsere europäische Einzäunung zubewegen, stellen wir fest, dass historisches Gut gerade noch hinsichtlich der Verdrängungsprozesse halbwegs überschaubar ist.
Allgemein bewegt sich der Umbau in einer erweiterten Dimension, öffnet Implikationen der Mediatisierung und stellt ein neues, nicht nur objektbezogenes Modell von Gegenwart und Geschichte vor. Es geht also um das Zusammenleben einer Gesellschaft, um neue Lebensformen der Zukunft. Der Umbau teilt zugleich das Schicksal der Unbeherrschbarkeit der Stadt. In Zahlen ausgedrückt heißt das beispielsweise: In Europa gibt es 250.000 historisch relevante Bauten, bei denen eine neue Akkordierung ihres Bestandes lebensnotwendig wäre. 80.000 davon sollten innerhalb von vier Jahren in Angriff genommen werden. Doch mittlerweile haben von 2007 bis 2013 europaweit 31.000 Bauunternehmen, die mit Altbauten Erfahrung haben, ihre Arbeit niedergelegt. Bereits wenn man bloß 60 % an dringenden Fällen des denkmalgeschützten Bestands erhalten wollte, müsste man Milliarden aufbringen – 80 Milliarden € alleine für die notwendige energetische und thermische Infrastruktur.

Territorialer Umbau
Doch sollte man nicht vor den vielen Nullen kapitulieren; vielmehr muss das gesamte Potenzial der zu tätigenden Eingriffe eingelöst werden, um in der europäischen Stadt eine Verkürzung der Distanz zur bloßen Historie zu implementieren. Es geht nicht nur um Hochglanzbilder für das Sightseeing, sondern um eine signifikante Koexistenz – auch oder gerade im Kontrast. Gedächtnis und Istzeit werden zu wesentlichen Identitätsspeichern. Identität als Kontinuitätsbegriff, als fließende Zeit.
Es sind reelle Bilder, die unsere Städte von anderen, fernen, von disconnected cities unterscheiden. Was ich meine, gilt nicht nur für den denkmalgeschützten Bestand, sondern auch für die profanen, peripheren Assanierungs-Interventionen, die zum Experiment einladen und wo die Regulative oft allzu streng und defensiv gesetzt sind, um die nötige Virulenz des Umbau-Entwurfes zu fördern. Und genuine, urbane Kultur ist auch das einzig umfassend Kompetitive, das uns im Wetteifern mit Asien und Amerika übrig geblieben ist.

Urbane Kultur, ihre Verdichtung und Aktualisierung, im Sinne von Renaturierung und nicht Behübschung, wäre ein Vortrag für sich. Barcelona mit 101 und nun Kopenhagen mit 40 großen Platzräumen lehren uns Axiome für Umbaustrategien des offenen Raumes: Eine Charta, prall gefüllt mit verschiedenen Raumcharakteren; ihre Biodiversität, die unterschiedlichen Typologien der jogging tracks mit 35 ausgeleuchteten Kilometern, die icon-towers usw. bieten in Kopenhagen eine Kaskade von Milieus einer faszinierenden Stadtsymphonie – für den metropolitanen Städter und nicht bloß für den Gutmenschen. Auch der Umbau von Brachen, Industrierelikten und dergleichen gewinnt in diesem Zusammenhang an Bedeutung.
Eine Umnutzungsform ist etwa das aktuelle Phänomen der urbanen Selbstversorgung durch intensive Landwirtschaft innerhalb der Stadtgrenze. In manchen Städten der Schweiz kommen bereits 32 % der Lebensmittel aus Stadtfarmen und städtischen Glashäusern, wodurch die Transportkosten wesentlich gesenkt werden können. Singapur ist in dieser Hinsicht schon fast zur Gänze autark: 60 % der Lebensmittelproduktion stammt dort aus eigenem Naturland, nur noch 40 % werden importiert. Und im Ruhrgebiet hat nicht bloß der Emscher Park das Zeug zur Nahrungsquelle: So ungern die hohe Arbeitslosigkeit der Region erwähnt wird, so vielversprechend klingen die Umbaustrategien und einschlägigen Umschulungsprogramme. Ausgediente komplette Industrieanlagen werden in Naturproduktions-Aggregate umgewandelt und bieten ein neues Feld für Architekturrecycling. Aus Platzmangel müssen die landschaftlichen Flächen freilich komprimiert und entsprechend gestaltet werden. Auch das ist Umbau.

Resümee
In diesem Patchwork der Planungsfelder habe ich versucht, anhand von vier Schwerpunkten den Umgang mit Bestand zu beleuchten: objektspezifischer Umbau, Reparatur, globale Paradigmen, territorialer Umbau. Die Theorie muss bei alledem den Umbau von Dogmen und Instabilitäten befreien und auf das Rationale und Sozialverträgliche des Umbaus aufmerksam machen. Sie muss aber auch in die Poren und Falten von Interpretationsspielräumen hineinfassen, um im vermeintlich Evidenten das Unsichtbare, das Abseitige, das von der Wirklichkeit Abgezogene herüberzuretten. Das theoretische Kommunikationssystem kann nicht nur zum Guten hin oszillieren, ohne auch die Opazität als eine zu wertende Kategorie auf die Waagschale zu legen.